Im Frühjahr 2003 fand in der Ruhrgebietsstadt Gelsenkirchen eine bemerkenswerte Veranstaltungsreihe zum Thema Klezmer statt: die klezmerwelten - mehr als musik. Neben zahlreichen Konzerten z.T. international bekannter Musiker und Gruppen, neben Spiel- und Tanzworkshops, neben zahlreichen Vorträgen war auch eine Ausstellung konzipiert, die ihre Erst-Präsentation vom 6. Februar bis 13. April in Gelsenkirchen erfuhr (und die derzeit, vom 11.01.2007-11.03.2007, auf der Tour durch Deutschland in der Synagoge zu Celle wieder zu sehen ist): Klezmer - hejmisch und hip. Diese Ausstellung beschreibt in Bildern und Dokumenten die Geschichte dieser populären Musik von den Wurzeln in den Schtetls Osteuropas über die Hotels in den Catskill Mountains, die Musikern wie Naftule Brandwein, den Epstein Brothers und später Sy Kushner Auftrittsmöglichkeiten boten, über das so genannte Revival in den USA bis hin zur heutigen Klezmerszene in den USA, in Europa im allgemeinen und in Deutschland im besonderen. Bedauert wurde im allgemeinen nur, dass es keine begleitende Dokumentation gab, die der Besucher schwarz auf weiß getrost nach Hause tragen konnte.
Diese Dokumentation der Ausstellung liegt jetzt unter dem Titel Klezmer - hejmisch und hip vor, herausgegeben vom Referat Kultur der Stadt Gelsenkirchen unter der Redaktion von Wiltrud Apfeld und unter Mitarbeit von Dr. Volker Bandelow und Michael Moos, und erschienen im Essener Klartext-Verlag.
In einem ungewöhnlichen Format (23*34 cm) und auf 108 Seiten bietet dieses Heft, das sei schon vorweg genommen, genau das, was die Ausstellungsbesucher bisher vermisst hatten: Erinnerung, Nachbereitung und Hintergründe. 108 Seiten hört sich zunächst nach nicht allzu viel an. Bedingt aber durch das große Format und die vergleichsweise kleine, aber gut zu lesende Schrift hat man doch viel zu lesen, sehr viel sogar. Es beginnt mit der Beschreibung der Intentionen, die die Macher mit der Ausstellung verfolgten und einem "virtuellen" Rundgang. Des weiteren sind einige Vorträge, die während der klezmerwelten gehalten wurden, abgedruckt:
Einen ebenso großen Stellenwert nimmt die Entwicklung in den USA ein, von den ersten jüdischen Emigranten Ende des 19./Anfang des 20.Jahrhunderts über das jiddische Theater, erste Aufnahmen auf 78er Schellackplatten, die New Yorker Szene im frühen 20. Jahrhundert, die Zeit der Ruhe zwischen 1945 und 1970 (oder, wie Willie Epstein es formulierte, "Diese Musik war mausetot") bis hin zum allbekannten Revival in den ausgehenden 70er Jahren und dem "Klezcamp", einem der beiden wichtigsten internationalen Klezmerfestivals, das seit 1985 jährlich stattfindet.
Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit der Klezmer-Szene in Israel. Henry
Sapoznik, einer der Protagonisten des Klezmer-Revival in den USA und Mitglied der Gruppe
"Kapelye", sagte einmal: "Hätte vor einer Generation jemand vorhergesagt,
dass Klezmermusik mit Enthusiasmus in Deutschland wiederbelebt und in Israel weitgehend
ignoriert würde, dann hätte man denjenigen unter Gelächter aus dem Raum gejagt.
Aber genau diese Situatuion ist eingetreten."
Nun, ganz so ist es nun doch nicht (mehr), immerhin findet das andere der beiden wichtigsten internationalen
Klezmerfestivals seit 1989 jährlich in Safed statt. Giora Feidman, zu dem man stehen kann
wie man will, dem man aber zugute halten muss, als erster Klezmermusik in Deutschland bekannt und
beliebt gemacht zu haben, Giora Feidman also begann seine Karriere in Israel, zunächst 1957
als Orchestermusiker, aber bald schon trat er regelmäßg in Tel Aviv und Umgebung
mit der Musik der Klezmorim auf. Und dann ist da noch Chava Alberstein, die - wie soll ich sie
einordnen? Schlagersängerin? Popsängerin? Jazzsängerin? Nennen wir sie
einfach - "The First Lady of Israeli Song", entdeckt auch mehr und mehr ihr Interesse
für die Klezmermusik.
Deutschland. Naturgemäß nimmt auch Deutschland einen breiten Raum ein, nicht nur dem Satz Henry Sapozniks folgend, sondern naturgemäß auch, weil wir hier in Deutschland sind. Was soll ich zur deutschen Szene sagen? Wir wissen es selbst, dass sie sich weitgehend in Berlin konzentriert, dass das Ruhrgebiet auf dem besten Weg ist, eine Szene zu etablieren, dass die hannoversche Szene, in den 90er Jahren noch blühend, weitestgehend tot ist (wohl niemand bedauert das mehr als ich), und dass es eine Unmenge von mehr oder weniger bekannten Klezmerbands gibt hier, deren Mitglieder nicht zwingend alle jüdischen Glaubens sind.
Das vorletzte Kapitel beschäftigt sich mit der erwachenden Szene in Osteuropa, speziell in Ungarn und Polen, und das letzte ordnet Klezmer musiktheoretisch in die Reihe vergleichbarer "Weltmusiken", wie Flamenco und Rembétiko, ein. Ich persönlich würde da auch noch den Tango nennen, nicht umsonst gibt es einige Gruppen, die genau diese Kombination, Klezmer und Tango, sich auf ihre Fahnen geschrieben haben.
Eine sehr umfangreiche Literaturliste beschließt das Heft.
So, nun habe ich schon wieder viel mehr geschrieben, als ich eigentlich wollte, und irgendwie
ist es auch über eine bloße Rezension des Heftes hinausgegangen. Und über die CD
habe ich noch kein Wort verloren. Es fällt mir ehrlich gesagt auch ein wenig schwer, denn
ich hatte eine ganz andere Erwartungshaltung und war demzufolge etwas enttäuscht. Beim
Blick auf die Interpretenliste dachte ich "toll, endlich einmal eine komplette Compilation"
und machte mir keine Gedanken darüber, wie 37+ Stücke in voller Länge auf
einer Audio-CD Platz finden sollen. Konsequenterweise sind es also alles nur "Teaser",
Ausschnitte zwischen 30 Sekunden und 1:30 Minuten, bisweilen auch etwas brutal ausgeblendet.Immerhin,
man bekommt einen Eindruck jiddischer Musik von den allerersten Anfängen der Aufnahmetechnik
im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bis heute, und dabei sind (fast) alle wichtigen Gruppen. Fast, weil
einige deutsche Gruppen fehlen - aber wer will da richten? Bei der Menge musste eine Auswahl
getroffen werden. Gut fand ich noch, dass allen Stücken eine kurze Erläuterung
vorangestellt ist.
Update zur CD (28.01.2007): Nachdem ich die Ausstellung jetzt endlich life und in Farbe in der
Celler Synagoge gesehen habe, muss ich doch ein paar weitere Worte zur CD verlieren. Konzipiert ist diese CD
als Begleiter durch die Ausstellung. Der Besucher bekommt einen CD-Player und Kopfhörer leihweise ausgehändigt
und lässt sich anhand der Musikbeispiele und korrespondierender Nummern auf den Plakaten durch die
Ausstellung geleiten. So gesehen (und gehört) bekommt die CD natürlich eine komplett andere
Qualität, als wenn man die Ausstellung "nur" anhand des Heftes betrachtet. Es sind
zwar alle 38 Plakate auch im Heft abgebildet, aber die auf die CD verweisenden Nummern übersieht man
doch zu leicht, so wie es auch mir geschehen ist. Und so macht die CD auch Sinn so, wie sie ist.
Ja, und gelernt habe ich auch noch etwas: dass es da mal einen Peter Rohland gab, leider 1966 viel zu früh verstorben, der schon 1963 mit jiddischen Liedern in Berlin, Düsseldorf und auf der Burg Waldeck auftrat.
Fazit: Kaufempfehlung für jeden, der sich mit Klezmer beschäftigt und auf kompaktem
Raum möglichst viel über kulturelle Hintergründe und Geschichte dieser wundervollen
Musik erfahren möchte.
Und wenn die Ausstellung mal bei Dir in der Nähe Station machen
sollte: Hingehen. Unbedingt.
Klezmer - hejmisch und hip
Musik als kulturelle Ausdrucksform im Wandel der Zeiten, 108 Seiten
Begleitheft zur Ausstellung, incl. Begleit-CD
Erschienen im Klartext-Verlag, 2004
ISBN 3-89861-379-8
17.90 EUR
© dmu 10/2004